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Der Besitz von Wohneigentum genießt spätestens seit 1945 einen zwiespältigen Ruf. Für die jetzt in Rente gehende Boomer-
Generation repräsentierte er in den Nachkriegsjahren einen biederen Rückzug ins Private. Den stillen Stolz meines Vaters auf sein
Eigenheim habe ich erst nach seinem Tod so richtig verstanden. Nachdem er in den Ersten Weltkrieg hineingeboren und in den
Zweiten als Soldat hineingezogen worden war, bedeuteten die eigenen vier Wände etwas, das ihm, wenn es gut ging, keiner
nehmen konnte. Es war nichts Prahlerisches dabei außer der Selbstgewissheit, es aus eigener Kraft geschafft zu haben. Wir, seine
Söhne, wollten nur weg. Uns treiben lassen, unterwegs sein.
Das biedere Image hat sich gehalten. Als ich mich unlängst bei einem Freund über die Qualen beklagte, die das Erstellen der
Grundsteuererklärung heraufbeschwor, verweigerte er sowohl Mitleid als auch Interesse. Jetzt hat dich also auch noch das
Spießertum ereilt, erwiderte er bloß. Meine Versuche, ihm am Beispiel Grundsteuererklärung die gescheiterte Digitalisierung der
deutschen Verwaltung zu erläutern, wies er derart schnöde ab, dass ich es hier in schriftlicher Form noch einmal versuche.
Bis zum 31. Januar sind Immobilienbesitzer in Deutschland verpflichtend dazu aufgerufen, den Finanzbehörden
Grundstücksdaten zu übermitteln: Größe, Lage, Bebauungsarten etc. Es geht um rund 35 Millionen Immobilien. Ausgelöst hat
sie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem den Gesetzgebern aufgegeben worden ist, die seit Jahrzehnten kaum
veränderten Voraussetzungen zur Erhebung der Grundsteuer neu zu bewerten und zu regeln. Klingt plausibel, und so wurde die
Aufgabe von den Finanzverwaltungen kurzerhand an die Eigentümer weitergereicht. Seither löst das Rätselraten darüber, was
genau verlangt wird, Nervenzusammenbrüche, Wut- und Verzweiflungsschreie aus. Wer weiß schon Bescheid über
Bodenrichtwert, Gemarkung und Grundbuchblattnummer? Immerhin ist der Hälfte der Eigentümer bereits gelungen, all das in
die elektronischen Speichermedien einzufüllen, was die Datenkrake Staat ungeachtet der emotionalen Bedeutung des Besitzes von
Grund und Boden wissen will.
Das ist gar nicht so einfach. Zur Ermittlung des Bodenrichtwerts etwa gibt es ein hilfreiches Onlineportal namens Boris. Wer
nicht aufpasst, landet indes bei einem räuberischen System gleichen Namens, das Gebühren für den Datenservice aufruft. Das ist
kein Einzelfall. In der Internetökonomie haben sich inzwischen viele mit Raffinesse und Hinterhalt darauf spezialisiert, für
staatliche Dienstleistungen, etwa das Erstellen einer Geburtsurkunde, parasitär abzukassieren. Das organisierte digitale
Verbrechen weiß, wo die Lücken im Verwaltungssystem sind und wie man sie gewinnbringend schließt.
Das große Ärgernis der
Grundsteuerform besteht
jedoch nicht allein in
dem Bedürfnis des
Staates, die Daten zu
erheben und neu zu
bewerten. Skandalös ist
vielmehr, dass er bereits
über die Daten verfügt,
diese aber nicht sinnvoll
und verlässlich
zusammenführen kann.
Die Immobilienbesitzer
sind gewissermaßen die
Angeketteten einer
Strafexpedition, die
ausgezogen sind, die
Digitalisierung des
Landes auf den Weg zu
bringen.
Augen zu und durch
also? Die Menschen
wissen sich zu helfen. Wer einigermaßen beflissen und nicht völlig ignorant ist, erfuhr irgendwann von jemanden, der die Tortur
am Rechner bereits hinter sich hatte. Und so entstanden Lerngruppen nach dem Prinzip „Each one teach one“. Man bringt sich
gegenseitig bei, worauf der Finanzminister begierig ist. Die Frage wird sein, was nun den renitenten Verweigerern und all jenen
blüht, für die das Bodenrichtwertlatein auch in Chinesisch geschrieben sein könnte – Hilfsbedürftige und all jene, für die die
digitalen Versprechen wohl zu spät kommen.
Die Grundsteuererklärung ist nämlich nur das markante Beispiel, auf das die spätmoderne „Titanic“ deutscher Bauart gerade
zurast. Die Orchester der Behörden halten noch weitere Aufgaben bereit, auch wenn sie nicht so monströs wie die
Grundsteuerreform daherkommen. So sind die Boomer angehalten, ihre Fahrzeugführerscheine aus Papier umzutauschen. Eigens
dazu muss man die ausstellende Behörde des Dokuments darum bitten, eine Karteikarte des gut 50 Jahre alten Stücks zur
Beglaubigung durch die Republik zu schicken.
Achtung!
Wenn hierzulande das Wort Digitalisierung
fällt, ist Vorsicht angebracht. Nicht selten entpuppt
es sich als Drohung, in der die ganze Pracht
der vormodernen Ordnungssysteme zum Vorschein
kommt. Wer gute Nerven hat, betrachtet es als
verwaltungshistorisches Lehrstück.
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